Mit jedem Atemzug den du nimmst

Arhuaco bereiten den Boden für den Anbau vor. Sierra Nevada de Santa Marta, Nordkolumbien © Yezid Campos/Survival

Die Philosophie der Arhuaco

Am Anfang der Zeit kreierte Kaku Serankua die Erde. Er machte sie fruchtbar und nahm sie zur Frau.

Die Welt wurde von zwei Sätzen aus jeweils vier goldenen Fäden gestützt, die miteinander verflochten und an den vier Himmelsrichtungen befestigt wurden. Dort wo sich die acht goldenen Fäden kreuzen, liegt das Herz der Welt. Dies ist unser Zuhause, die Sierra Nevada, die von der „schwarzen Linie“ gekennzeichnet wird, welche ihre Grenze bestimmt und sie von den umliegenden Niederebenen teilt.

Ein Treffen in den satten Wiesen der Sierra Nevada © Danilo Villafañe

Die schneebedeckten Gipfel und die heiligen Seen wurden in die Mitte der Berge gesetzt. Dies ist die höchste Region, die ist chundua. Die Gipfel sind wie Menschen, in vielen Arten und Weisen wie wir, wie die „Beschützer der Ehre“. Sie sind wie unsere Eltern, unsere Väter und Mütter. Sie sind auch die Väter und Mütter des weißen Mannes, denn unser Gott ist sein Gott. Ein „Mamo“ wurde auf jeden Gipfel gesetzt, um wachsam und fürsorglich zu sein. Jeder Gipfel hat einen „Mamo“, genauso wie jedes Haus von jemanden bewohnt wird. Die Gipfel sind wie unsere Tempel und Kirchen.

Als Kaku Serankua das Land verteilte, behielt er die Sierra als den heiligen Ort, wo die Weisheit leben würde, damit sie eines Tages wieder der Menschheit gelehrt werden kann. Dies ist der Ort, an dem Kaku Serankua jetzt lebt und von dem aus er seine Schöpfung betrachtet.

Bevor er die Welt erschuf, schuf Kaku Serankua das Wasser, welches die Erde nährt, so wie die Adern des Menschen seinen Körper nähren. Er schuf auch die Sterne, die Sonne, den Mond und alles andere.

Als er zur Erschaffung der lebenden Wesen kam, gab er den vier Arten von Menschen – den Weißen, den Gelben, den Roten und den Schwarzen – Gesetze. Ihre Farben sind die gleichen wie die vier Hüllen der Erde: bunnekän, die weiße Erde, minekän, die gelbe Erde, gunnekän, die rote Erde und zeinekän, die schwarze Erde.

Arhuaco bereiten den Boden für den Anbau vor. Sierra Nevada de Santa Marta, Nordkolumbien © Yezid Campos/Survival

Unser Atem ist derselbe, der aus der Welt strömt: Luft, Wind und Brise. Alle Menschen sind gleich. Jedem wurden seine eigenen Rechte und seine eigenen Gesetzte gegeben, damit sie nicht die ihrer Brüder und Schwestern verletzen würden. Jedem von uns wurde ein Pfad gegeben, mit dem wir näher an Gott kommen können, Ihn begreifen und Ihn kennenlernen können.

Uns wurde gezeigt, wie man all dies respektiert. Wir schufen dieses Gesetz nicht selbst: Es wurde uns von Kaku Serankua gegeben, unserem Vater. Er lehrte uns auch, wie man das Land kultiviert, wie wir unsere Güter gleichmäßig verteilen, wie man sich um die Wälder, die verschiedenen Arten der Tiere, die Gewässer und um die Berge sorgt, wie man sich um die Sonne, die Sterne, den Mond, die Trocken- und Regenzeit sorgt, wie man Krankheiten behandelt und heilt. Er gab uns Wissen über Erdbeben und über all das, was geschieht in dieser Welt. All dies sollte der ganzen Menschheit überall zugute kommen: auf allen Teilen dieser Erde.

So lebten wir. Wir kannten keine Eigennützigkeit. Wir missbrauchten und beschimpften uns nicht gegenseitig, noch begehrten wir die Sachen unseres Bruders oder verschlangen seine Rechte. Wir kannten keine Überheblichkeit, noch wussten wir, dass manche weniger Wert waren als andere.

Diese Gesetze wurden uns gegeben, damit wir uns gegenseitig helfen würden mit Gleichheit, Gerechtigkeit und Verständnis. War einer schwach, gab der andere ihm Kraft.

Mädchen in der Sierra Nevada sammeln Bananen und Feuerholz. © Danilo Villafañe

Das Leben, die Weisheit und das Gesetz haben alle ihren Ursprung in chundua, in den schneebedeckten Gipfeln und Seen. Wir benötigen die Natur, um uns unser eigenes Leben zu geben und jeder Aspekt der Natur hat selbst eine spirituelles Leben. Wir benötigen chundua. Aber chundua benötigt auch uns, um die Balance zu halten. Jedes Tier und jeder Baum, jeder Fluss und jeder Stein, die Sonne, der Mond, die Sterne – alle haben ein spirituelles Leben, alle brauchen Unterhalt, ebenso wie wir Essen brauchen. Bekommen sie es nicht, werden sie sterben: Die Flüsse werden austrocknen, die Bäume werden sterben, die Sonne selbst wird sterben.

Die Geistlichen

Es sind die „Mamos“, unsere Priester, unsere Gelehrten, die die spirituelle Welt erhalten. Sie halten all die Kräfte im Gleichgewicht. Sie bewegen sich zwischen chundua, den Gipfeln und der „schwarzen Linie“ auf den Ebenen. Sie singen und tanzen, erhalten die Zeremonien und machen Abgeltungen an die Erde. Sie bewahren die heiligen Objekte, die Stäbe, die Masken und die heiligen Steine. Sie sind Vermittler, die wissen wie man sich zwischen der spirituellen Welt und der normalen Welt bewegt. Sie heilen Krankheiten und können die richtigen Orte finden, um unsere Toten zu beerdigen. Sie machen dies nicht für sich selbst, nicht nur für uns, sondern für die ganze Menschheit und für alles Leben.

Dies sind die wahren Gesetze, die jedem der fünf Kontinente gegeben wurden. Jedes Geschöpf und jeder Aspekt der Natur hat sein eigenes Gesetz: Um es zu bewahren, müssen wir es respektieren. So wurde es angeordnet und so war es schon immer.

Das poporo ist ein Symbol für Männlichkeit und ein Zeichen der Zivilisation unter den Indianern der Sierra Nevada © Danilo Villafañe

Diese Weisheit, dieses Gesetz, wurde nicht von uns erfunden, noch von einem anderen Menschen. Es ist die Wahrheit, basierend auf dem tiefsten Bewusstsein und der tiefsten Einsicht. Der höchste Punkt von allem liegt außerhalb der vier Himmelsrichtungen. Dort befindet sich ein Wissen, dass uns von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft erzählt, von allem was die Welt betrifft, die Gewässer und die verschiedenen Planeten. Es sagt uns, wie wir die vielen Aspekte der Natur ausgleichen sollen, damit alles immer in Harmonie bleibt. Dies wurde seit Menschengedenken von Mamo zu Mamo überliefert.

Gerade genug über die Natur zu wissen, um sie auszunutzen, ist einfach. Aber es ist schwer, ihre vielen verschiedenen Facetten zu schätzen und zu wissen, wie sie nebeneinander bestehen. Es ist schwer zu wissen, wie vorsichtig man sie pflegen muss, um der ganzen Menschheit zum Vorteil zu sein. All diese Dinge sind es, bei denen ambitionierte Menschen nicht annähernd wissen, wie sie zu verstehen sind.

Kaku Serankua lehrt uns, dass die Natur unsere Mutter ist und dass wir sie und ihre Gesetzte respektieren müssen. Es muss dieses Verständnis geben und es muss Respekt, Gerechtigkeit und Gleichheit unter den Menschen geben. So haben wir schon immer gelebt.

Die Gesetze des weißen Mannes

Aber der weiße Mann weiß nichts von alldem. Diejenigen, die nur wissen wie man ein Leben nimmt, anstatt eines zu schaffen, werden all dies für nicht glaubhaft halten. Er hat seine Brüder angegriffen, die Arhuaco, und hat uns zurückgedrängt von der „schwarzen Linie“. Er hat sich selbst von der Natur gelöst und da er nicht weiß, wie man sie bewahrt, nutzt er sein Wissen um sie zu zerstören. Er hat sich selbst von seinen Gefährten abgegrenzt. Er hat keinen Respekt für seine eigenen Brüder und er macht Gesetzte, die sie verfolgen und ihnen das Land nehmen.

Wenn der weiße Mann durch seinen Lebensstil weiterhin Schulden bei der Erde anhäuft, dann wird er seine eigene Zerstörung hervorrufen. So muss es sein.

Arhuaco Mann webt Baumwollgarn, Sierra Nevada de Santa Marta, Kolumbien © Yezid Campos/Survival

Seit jeher, seit der weiße Mann das erste Mal auftauchte, wollte er unser Land nehmen und uns unsere eigenen traditionellen und wahrheitsgemäßen Gesetzen rauben, damit er seine eigenen aufdrängen kann. Seine zahllosen Versprechungen sind zu nichts gekommen. Vor ein paar Jahren versprach er uns, dass das Land unseres Vaters respektiert werden würde, und dass das Gebiet, das gestohlen wurde, wieder zurückgegeben würde – aber dies ist nie geschehen.

Wir müssen das Land, das Kaku Serankua uns gelassen hat, retten, da es unsere Mutter ist, die Quelle unseres Lebens und Unterhalts. Sie wurde vom weißen Mann missbraucht. Wir müssen das Land retten, da wir sie brauchen, um zu leben. Sie ist heilig und durch sie können die Mamos die Ordnung des Universums beibehalten: Eine Ordnung die auf die Gleichheit und das Leben aller Menschen gebaut ist. Wir müssen unsere Mutter retten, damit wir unsere Kultur und unsere Traditionen erhalten können und uns vor dem weißen Mann verteidigen können, der uns mehr und mehr einengt: Er drängt uns auf unfruchtbares Land, als wären wir nur Schweine, eingezäunt, um gemästet zu werden.

Wir haben kein Vertrauen in die Gesetze des weißen Mannes und wir hoffen auf nichts von ihm. Alles was er uns jemals gegeben hat, waren gebrochene Versprechen und Lügen – seine Gesetze beuten immer die Indianer aus.

Er missbraucht uns und stimmt uns nur zu, wenn er etwas von uns will (zum Beispiel Stimmen für die lokalen Politiker, die viel versprechen, aber nichts tun).

Der weiße Mann hat uns viele neue und falsche Bedürfnisse beigebracht, die uns Stück für Stück von unseren Traditionen und unserer herkömmlicher Art, all das herzustellen was wir brauchen, trennt. Er hat seine eigenen Ansichten in unsere Gemeinde gebracht. Aber seine Ansichten sind schlecht und bringen sogar einige von uns dazu, sich dafür zu schämen, Indianer zu sein – sich dafür zu schämen, was unserer größter Stolz sein sollte. Indianer zu sein ist, als wäre man an der Wurzel von Dingen.

Arhuaco Mann und Kind, Sierra Nevada de Santa Marta, Nordkolumbien © Survival International

Viele Arhuaco glaubten die falschen Versprechen und gaben den Politikern und Landbesitzer nach – manche verrieten sogar ihre eigenen Brüder.

Die Weißen haben unsere interne Regierung nicht respektiert. Wir andererseits haben immer die nationale kolumbianische Regierung respektiert und wir fordern, dass sie unsere ebenfalls respektiert. Wenn die kolumbianische Regierung Gesetze über uns verabschieden will, sollten wir diesbezüglich nach unserer Einwilligung gefragt werden. Wir fordern das Recht, unsere eigenen Anführer zu wählen, so wie wir es schon immer getan haben. Wir fordern, dass wir konsultiert werden, bevor irgendjemand die Berechtigung erhält unser Land zu betreten. Wir wollen nicht, dass mehr Weiße kommen und unsere heiligen Stätten zerstören, uns als Touristenschauspiel ansehen oder hier ohne unsere Einwilligung arbeiten.

Wir wollten schon immer in Frieden leben, nach unseren Traditionen. Wir haben immer gehofft, dass die Weißen, unsere jüngeren Brüder, unseren Standpunkt verstehen und mit uns arbeiten würden. Aber jetzt sind viele Jahre vergangen und das Einzige, was die weißen Männer gemacht haben, war zu versuchen uns zu betrügen.

Der Ehemann von Dilia Torres wurde vor 22 Jahren ermordet – die Täter wurden nie zur Verantwortung gezogen. © Survival

Wir begreifen jetzt, dass unser Kampf und unser Leid von allen kolumbianischen Indianern geteilt wird. Wir bitten nicht um Hilfe. Stattdessen stehen wir an der Seite anderer Indianern und arbeiten zusammen für unser Land und unsere Kultur.

Wir haben gesehen, dass wenn der weiße Mann von „Fortschritt“ und „Eingliederung“ spricht, dass er eigentlich Elend und Verlust meint. Der weiße Mann hört nicht auf uns. Er will nicht, dass wir unsere eigene Zukunft wählen.

Der Gesellschaft des weißen Mannes beizutreten, bedeutet alles zu verlieren, was uns gehört. Wir können dies jetzt sehr deutlich sehen und wir wissen, dass wir uns selbst um unser Schicksal kümmern müssen.

Dieser Text erschien erstmals in Survivals Publikation Guardians of the Sacred Land (1994)

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