Wer verteidigt Naturschutzgebiete und warum?

© Fiore Longo/Survival

Von Stephen Corry

 

Eine Fassung dieses Artikels wurde ursprünglich von dem World Rainforest Movement in ihrem Bulletin vom März/April 2020 veröffentlicht, das hier zu finden ist. Die Übersetzung ins Deutsche wurde durch Survival International vorgenommen und basiert auf dem englischen Original.

 

Es sieht so aus, als würden sich alle dem Plan der Naturschutzindustrie anschließen, die Größe der Schutzgebiete verdoppeln zu wollen. Diese sollen sich über dreißig (oder sogar fünfzig?) Prozent des Globus erstrecken. Die Zahl ist willkürlich gewählt, der entscheidende Punkt ist aber, dass die Schutzgebiete die Lösung für so ziemlich alle großen Probleme sein sollen: Verlust der biologischen Vielfalt, Klimawandel und jetzt sogar – ob man es glaubt oder nicht – COVID-19!

Wäre das nicht schön! Alle sind sich einig, dass dies die großen Probleme sind – zumindest alle, die nicht verhungern oder bombardiert und beschossen werden. Doch so zu tun, als seien Schutzgebiete die Antwort auf nur eines der oben genannten Probleme, ist eine wirklich große Lüge. Sie werden keines dieser Probleme lösen. Wenn jemand ein Ammenmärchen erzählt und es ständig wiederholt, werden die Menschen es natürlich irgendwann glauben.
 
Ein tragischer Aspekt des Forcierens falscher Lösungen ist, dass es die Aufmerksamkeit von den Ansätzen ablenkt, die echte Lösungen sein könnten. Das ist ärgerlich, aber diese große Lüge ist deutlich schlimmer.

Verlust der biologischen Vielfalt

Befassen wir uns der Reihe nach mit den drei Problemen, welche die Schutzgebiete lösen sollen. Der Verlust der biologischen Vielfalt sollte das einfachste Thema sein. Wenn man eine große Landfläche umzäunt und die menschlichen Aktivitäten stoppt, hat man am Ende doch sicherlich eine größere Biodiversität als vorher, oder?

Diese Idee basiert auf drei Irrtümern. Erstens ist die sogenannte Wildnis ein Hirngespinst der Europäer. Es ist der Mythos, der seit mehr als zweitausend Jahren die “Zivilisation” der “Wildnis” gegenüberstellt – Länder außerhalb des römischen Imperiums, bevölkert von feindseligen, nomadischen Barbaren. Das sind die Gebiete, welche die Römer “zähmen” wollten, hauptsächlich weil sie Ressourcen wie Sklaven, Salz und Zinn haben wollten. Jetzt behaupten wir, dass wir die Gebiete “wild” lassen wollen, aber in Wirklichkeit ist immer noch jemand scharf auf die Ressourcen, die in den Schutzgebieten zu finden sind, um vom Tourismus, der Abholzung, den Plantagen und sogar dem Bergbau zu profitieren.

Diese Gebiete sind nicht „wild“ oder unberührt. Die Menschheit hat die Landschaft fast überall beeinflusst, so lange es sie – uns – gibt. Warum auch nicht? Warum sollten wir als die intelligenteste Spezies der Erde die Flora und Fauna nicht nach unseren eigenen Bedürfnissen verändern, so wie viele andere Arten auch? 

Die Menschen haben mit Feuer Land gerodet, das Gleichgewicht der Tierpopulationen durch Jagd verändert, Pflanzen im interkontinentalen Maßstab umgesiedelt, Tiere domestiziert (der Hund war der erste, von dem wir es wissen) – und das alles Zehntausende von Jahren vor dem, was wir heute “Landwirtschaft” nennen. Als Wachstum und Viehzucht wichtiger wurden als Jagen und Sammeln (und vergessen Sie das europäische Ammenmärchen, dass die Landwirtschaft im Nahen Osten erfunden wurde), beschleunigten sich die Veränderungen. Hirten schufen neue Weideflächen, ihre Herden verbreiteten Samen von Pflanzen über riesige Gebiete und erschlossen neue Räume. Die Menschen manipulierten die Pflanzen, um Hunderte von Züchtungen zu produzieren, die ohne menschliches Zutun nicht überleben konnten. Auch Wasserläufe wurden durch das umfangreiche Anlegen von Terrassen an Berghängen, saisonale Rodungen und selektive Jagd (z.B. auf Biber) verändert.

Neueste Forschungen weisen darauf hin, dass die großen „Wildnisgebiete" der Erde – der Amazonas-Regenwald, die afrikanischen Steppe, der indische Dschungel und so weiter – menschliche Schöpfungen sind, die über Jahrtausende geformt wurden. Dies wurde – wenig überraschend – von den europäischen Siedlern nicht anerkannt und hat bis heute keinen Eingang in die Denkweise der Naturschützer gefunden. Der Begriff “Wildnis” wurde seit den "Indianerkriegen“ in den USA gefördert, als die Ureinwohner Amerikas aus den entstehenden Nationalparks hinausgeworfen wurden – nur ein weiteres Kapitel ihrer Unterwerfung und ihrer “Zähmung” durch den Westen. Der Rassismus, der damals ein zentrales Element in der Entstehungsgeschichte des Naturschutzes war, ist auch heute noch präsent, wenn auch etwas besser versteckt.

Der zweite Irrtum der Idee, dass die Schutzgebiete die biologische Vielfalt schützen, ist die Tatsache, dass es nicht viele Belege dafür gibt, dass sie wirklich erfolgreich darin sind. Es ist unmöglich, mit umfassender Genauigkeit die Veränderungen zu erfassen (was genau zählt man?), aber Studien zeigen, dass Land unter indigener Kontrolle eine viel bessere Bilanz aufweist als Naturschutzgebiete. Langsam wird es zur anerkannten Tatsache, dass etwa 80% der Biodiversität in indigenen Gebieten zu finden ist.

Der dritte Irrtum ist die Annahme, dass Naturschutzgebiete nicht zum Verlust der biologischen Vielfalt beitragen – sie können sie sogar verringern. Durch die Vertreibung von indigenen Völkern (vergesst die Lüge, dass solche Vertreibungen der Vergangenheit angehören – das tun sie nicht), werden gerade diejenigen ausgeschlossen, die nachweislich die biologische Vielfalt am Besten schützen. Anstatt sie das tun zu lassen, was sie immer sehr gut gemacht haben, werden sie rausgeschmissen und auf die Müllhalde geworfen, was schlussendlich der Landschaft schadet.

Wenn wir den Verlust der biologischen Vielfalt wirklich bremsen wollen, wäre die schnellste, billigste und bewährteste Methode, so viel indigenes Land wie möglich zu erhalten. Außerdem muss auch Land, was ihnen gestohlen wurde, wieder unter ihre Kontrolle gebracht werden.

Der Klimawandel

Die Vorstellung, die Schutzgebiete würden zur Lösung der Klimakrise beitragen, ist so leicht zu widerlegen, dass man sich fragen muss wie überhaupt irgendjemand auf diese lächerliche Idee kommen konnte. In aller Kürze: Wenn die Welt die gleiche Luftverschmutzung auf nur 10% ihrer Oberfläche (oder 5% oder sogar weniger) produziert wie heute, dann ist es egal, was in den restlichen 30% (oder was auch immer) unter “Schutz” stehenden Flächen geschieht. Die Auswirkungen auf das Klima bleiben genau die gleichen: Man kann das Land umzäunen, aber man kann den Wind nicht einsperren.

Wenn die Verbrennung fossiler Brennstoffe die Ursache für den Klimawandel ist, dann ist die Lösung einfach – weniger verbrennen und Scheinlösungen wie den Emissionshandel oder Nullenergie-Ziele vergessen. Aber es ist naiv zu glauben, dass dies möglich ist, ohne den Verbrauch in den reicheren Ländern zu senken, die weitaus mehr Energie verbrauchen als die ärmeren Länder. Was auch immer geschieht, die massive und wachsende Ungleichheit muss korrigiert werden – im Interesse aller.

Mehr Schutzgebiete werden im Kampf gegen den Klimawandel nicht helfen. 

COVID-19

Die Annahme, dass eine größere Anzahl von Schutzgebieten Pandemien verhindern oder reduzieren können, ist neu. Es ist ein offensichtlicher Versuch, die gegenwärtige Krise auszunutzen, um die Agenda des Festungsnaturschutzes zu fördern, die in keinerlei Zusammenhang mit der aktuellen Epidemie steht. Die These ist ein zynischer Marketingtrick.

Coronaviren wurden erstmals vor Jahrzehnten von der Wissenschaft entdeckt. Wie heute allgemein bekannt, hat COVID-19 seinen Ursprung in einer Tierart, bevor es auf den Menschen übersprang. Wir wissen noch nicht, von welcher Tierart es ausging. Es könnten Wildfledermäuse aber auch etwas anderes sein. Es könnte einen Zwischenwirt gegeben haben, wie zum Beispiel Schuppentiere, die in China weit verbreitet sind und dort Berichten zufolge gezüchtet werden, aber auch das wissen wir nicht. Das ist nicht überraschend: Das Bakterium hinter dem Schwarzen Tod (75-200 Millionen Todesfälle) ist bekannt (Yersinia pestis), aber der Übertragungsweg – man geht davon aus, dass die Bisse von Rattenflöhen verantwortlich sind – könnte in Wirklichkeit auch von Mensch zu Mensch gewesen sein. Die Annahme, dass COVID-19 aus dem Wildtierhandel stammt, ist nicht nachgewiesen und sie ist darüber hinaus wahrscheinlich bedeutungslos.

Wie dem auch sei, die Menschheit hat zweifellos seit der Existenz unserer Spezies an (zoonotischen) Krankheiten gelitten, die von anderen Tieren stammen. Wir haben immer in der Nähe von Tieren gelebt. Die Influenza, die jährlich vielleicht 290.000-650.000 Menschen umbringt oder zumindest ihren Tod beschleunigt, stammt ursprünglich von Dschungel-Vögeln und ist auf ihre domestizierten Nachkommen wie Hühner und Enten übergesprungen. Masern, an denen jährlich etwa 140.000 Menschen sterben, sind ursprünglich von domestizierten Rindern übertragen worden. (Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Artikels sollen etwa 130.000 Menschen an COVID-19 gestorben sein).

Es gibt Millionen von Virustypen. Sie sind überall, auch in uns, sie mutieren fortlaufend und es gibt sie wahrscheinlich schon seit den ersten lebenden Zellen. Sie sind Teil des Lebens.

Mehr Naturschutzgebiete werden nichts zur Verhinderung von Pandemien beitragen. Wenn überhaupt, dann haben sie den gegenteiligen Effekt, indem immer mehr Menschen auf engem Raum zusammenleben müssen. Dieser Effekt tritt dadurch ein, dass Menschen von ihrem Land vertrieben werden und in städtische Slums drängen, in denen bereits etwa ein Viertel der Weltbevölkerung lebt.

Welche Art von Schutzgebieten würden bei diesen drei Problemen wirklich helfen?

Schutzgebiete in ihrer jetzigen Form würden keines dieser Probleme lösen und könnten durchaus einige dieser Probleme verschlimmern. Es wäre jedoch leicht, sich ein Schutzgebiet vorzustellen, das zum Schutz der biologischen Vielfalt beitragen würde: Es müssten einfach die Landrechte indigener Völker geschützt werden. Das Problem ist, dass es, abgesehen von einigen folgenlosen Lippenbekenntnissen, keine Anzeichen dafür gibt, dass der Erhalt der biologischen Vielfalt wirklich das ist, was die Befürworter der Schutzgebiete im Sinn haben.

Gegenwärtig gibt es zwei Arten von Schutzgebieten. Eine davon existiert in Gebieten, in denen die lokale Bevölkerung zahlenmäßig und politisch relativ stark ist. Dort kann kein Schutzgebiet geschaffen werden, ohne auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Innerhalb der Nationalparks im Vereinigten Königreich gibt es zum Beispiel bewirtschaftete Farmen und sogar ganze Dörfer und Städte. Es gibt keine Einschränkungen hinsichtlich der Einreise oder des Wohnens in ihnen. Die Menschen werden nicht ausgewiesen, weil sie ein erhebliches politisches Mitspracherecht haben. Die andere Art – der Festungsnaturschutz – ist in Afrika und Teilen Asiens die Norm. Nach diesem Festungsprinzip wurden die ersten Nationalparks in den USA angelegt. Die lokale Bevölkerung, fast immer indigene Menschen, werden durch Gewalt, Zwang oder Bestechung vertrieben. Die besten Hüter des Landes, einst selbstgenügsam und mit dem niedrigsten ökologischen Fußabdruck von uns allen, werden auf landlose Verelendung reduziert und drängen in bereits überfüllte Städte.

Es gibt keinen Grund für die Vermutung, dass die neue Forderung nach einer Verdoppelung der Schutzgebiete etwas anderes für die indigenen Völker bedeutet. Die Verfechter dieses Vorhabens sprechen immer noch weitgehend von “Wildnis” an Orten in Afrika oder Asien, also genau dort, wo indigene Völker leben, wo der Festungsnaturschutz als Allheilmittel zelebriert wird und wo die Menschen, während ich diese Zeilen schreibe, von ihrem Land vertrieben werden (siehe das Kongobecken oder auch die indischen Tigerreservate).

Wer will Schutzgebiete und warum?

Schutzgebiete werden massiv von Naturschutzorganisationen, Regierungen und Unternehmen gefördert. Die Naturschutz-NGOs wollen so viel Geld wie möglich, um ihre beherrschende Machtposition und den damit einhergehenden Einfluss auf immer mehr Teile der Erde zu erhalten, die sie durch die lokale Bevölkerung bedroht sehen. Regierungen hassen autarke, selbstständige Menschen, die schwer besteuer- und kontrollierbar sind sowie dazu neigen, den Anspruch des Staates, sich über lokale Gemeinschaften hinwegzusetzen, abzulehnen. Unternehmen sind auf der Suche nach mehr Verbrauchern und zielen auf die Gewinnung von mehr Rohstoffen aus der „Wildnis“ ab. Sie brauchen Orte, an denen sie behaupten können, CO2-Emissionen auszugleichen, um ihr Image so weit wie möglich klimaneutral wirken zu lassen – heutzutage auch Greenwashing genannt.

Das Ergebnis ist, dass Milliarden an Steuergeldern in Naturschutzgebiete fließen, die alle Kontrollmechanismen zur Einhaltung der Menschenrechte ignorieren, die dort routinemäßig verletzt werden. Die meisten dieser Projekte werden von nichtstaatlichen Organisationen oder gewinnorientierten Privatunternehmen betrieben – oder von beiden gemeinsam. Sie werden in Zusammenarbeit mit dem Holzabbau, der Rohstoffindustrie, der Trophäenjagd, Tourismuskonzessionen und der Agrarindustrie errichtet. Sie nehmen das Land, das lange Zeit eine Lebensgrundlage für die lokale Bevölkerung darstellte, und gestalten es so um, dass einige wenige Außenstehende daraus Profit schlagen. Beispielsweise gibt es in einigen Gebieten eine offensichtliche Überschneidung von Bergbaukonzessionen und Schutzgebieten. Naturschutzorganisationen werden, zumindest teilweise, von den Firmenbossen kontrolliert. Sie sitzen in ihren Vorständen, arbeiten mit ihnen zusammen und finanzieren sie sogar. Warum sollte man dann etwas anderes als eine unternehmensfreundliche Position erwarten?

Die Idee des Festungsnaturschutzes – Schutzgebiete, die Land vor der mutwilligen Habgier der Einheimischen schützen – ist ein kolonialer Mythos. Es ist ein umweltschädliches Märchen, das in rassistischen und ökofaschistischen Vorstellungen darüber verwurzelt ist, welche Menschen etwas wert sind und welche nicht. Die Wertlosen dürfen vertrieben, marginalisiert und in die Armut gedrängt werden, wenn ihnen nicht sogar Schlimmeres widerfährt. Viele Umweltschützer wissen das, aber sie schweigen aus Sorge um ihre Karriere oder Angst vor rechtlichen Schritten.

Indem man die lokale Bevölkerung ihres weitgehend autarken Lebensstils beraubt (das Jagen, die Viehzucht, das Sammeln und der Anbau von eigenen Nahrungsmitteln und Medikamenten) und sie in die Geldwirtschaft auf ihrem menschenfeindlichsten Niveau zwingt, werden mehr Schutzgebiete tatsächlich zu mehr Biodiversitätsverlust führen, den Klimawandel verschärfen und die Wahrscheinlichkeit von Pandemien erhöhen. Es wird also genau das Gegenteil von dem eintreten was erreicht werden soll und was öffentlich kommuniziert wird. Wenn die Befürworter des Festungsnaturschutzes ihren Kampf gewinnen, wird die Folge eine zunehmende Verarmung und noch mehr Hunger für Millionen von Menschen sein. Diese Verelendung wird die Menschen an einigen Orten dazu zwingen, ihr Land mit Gewalt zurückzuerobern. Das wird das endgültige Aus dieser Schutzgebiete bedeuten.

All das soll nicht heißen, dass viele der Menschen, die sich für den Festungsnaturschutz stark machen, die große Lüge nicht glauben: Sie glauben sie. Sie klammern sich so fest daran wie jeder religiöser Fanatiker an sein Glaubensbekenntnis. Letzten Endes ist es auch für sie eine Katastrophe, da sich ihre Arbeit langfristig als kontraproduktiv erweisen wird. Aber die Tragödie, die den Menschen und der Natur, die sie schädigen, auf diesem Weg zugefügt wird, ist so viel gravierender. Wenn uns die biologische Vielfalt und der Klimawandel am Herzen liegen, dürfen diese Menschen sich nicht durchsetzen. Die biologische Vielfalt hängt von der menschlichen Vielfalt ab. Das ist das Schlüsselelement, das rasch zu einer Naturschutzideologie für die Zukunft, für unseren Planeten und für die ganze Menschheit zusammengefügt werden muss.

 

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