"Wenn unser Land und unser Wald verschwinden, was wird dann aus meinem Volk und aus unserer Kultur?"

© Sarah Shenker/Survival International

von Tainaky Tenetehar, Wächter des Waldes im indigenen Territorium Araribóia in Brasilien

Mein Name ist Tainaky Tenetehar, ich stamme aus dem indigenen Territorium Araribóia im brasilianischen Bundesstaat Maranhão. Ich bin einer der Wächter des Waldes.

Holzfäller1, Jäger und Farmer fallen illegal in unser Land ein und zerstören es. Wir wissen, dass sie unser Land verwüsten. Wir wissen, dass unsere Kultur Stück für Stück verschwindet. Wir sorgen uns um die Zukunft unserer Kinder. Was soll in zehn oder fünfzehn Jahren aus ihnen werden, wenn die Invasion und Zerstörung unseres Landes anhält? Wenn unser Land und unser Wald verschwinden, was wird dann aus meinem Volk und aus unserer Kultur? Oder aus der folgenden Generation?

Ohne den Wald, werden auch die Tiere verschwinden. Alles wird verschwinden: Der Regen wird verschwinden, die frische Luft wird verschwinden und so wird es auch unserer Gesundheit ergehen, denn unsere Gesundheit ist mit dem Wald verbunden, sie steckt in den Bäumen und den Früchten des Waldes. 

Unser Land ist uns heilig. Fremde finden den Wald abstoßend, sie sagen, er produziere keinen Mehrwert. Sie sagen: „Der Indio2 produziert nichts, der Indio ist faul. Der Indio entwickelt sich nicht." Warum sollten wir uns entwickeln müssen, wenn wir doch bereits auf unsere eigene Weise entwickelt sind? 

Weiße Menschen sagen oft, dass sich die brasilianische Gesellschaft entwickeln müsse, um sich zu verbessern. Aber wie kann diese Entwicklung Verbesserung bringen, wenn sie es bis jetzt noch nicht getan hat? Die Regierung sorgt sich nicht einmal um ihre eigenen Leute. Ein Land bombardiert das andere und die Regierungsangehörigen lassen ihr eigenes Volk an Hunger und Durst sterben. Sie zwingen ihre Leute auf die Straßen, wo sie sich von Abfall ernähren müssen und unter Brücken leben. Kinder sterben, weil sie nichts zu essen haben. Was für eine Regierung ist das, die nicht einmal nach ihrem eigenen Volk schaut?

Sie wollen uns ihre Lebensweise aufzwingen. Das lassen wir nicht zu. Jeder Mensch lebt auf die Art und Weise seiner eigenen Nation, seines Volkes. Wir zwingen sie doch auch nicht, ihre Kultur zu ändern – warum lassen sie uns also nicht in Ruhe und auf unsere Weise leben? Das ist alles, was wir möchten, in Frieden leben und nicht mit ihnen im Krieg stehen.

Wer auch immer dies liest, ich möchte Sie und die ganze Welt bitten, unsere Lebensweise zu respektieren. Es ist unsere Art zu jagen, zu singen, unsere Kultur und unsere Sprache. Wir haben das Recht in Frieden zu leben, frei im Wald umherzulaufen und ihn zu betreten – es ist unser Wald. Ohne ihn werden wir nicht überleben.

Unser Land ist voll von Leben – sehr viel Leben. Eine einzelne Ameise, die auf dieser Erde lebt, jede Schlange, jede Eidechse ist Teil unseres Lebens. Sie bilden das Gleichgewicht unseres Waldes. Jedes Insekt hat seine Funktion auf dieser Erde.

Unkontaktierte Awá leben ebenfalls in unserem Territorium – sie sind unsere Nachbarn. Sie möchten weder Kontakt zu den Karaiw (nicht-Indigene) noch zu uns. Der Grund dafür: Sie erkranken, wenn sie Kontakt mit Außenstehenden haben. Eine einfache Grippe wird für sie zu einer ernsthaften Bedrohung, der sie nichts entgegenzusetzen haben. Wir wollen nicht, dass das passiert.

Aus dieser Überlegung heraus, begannen wir darüber nachzudenken, was wir tun könnten, um unser Land zu verteidigen oder zumindest den großen Schaden an unserem Land zu verringern. Die Oberhäupter haben sich entschieden, die Wächter des Waldes zu gründen, denn wir waren es leid, so lange auf die Regierung zu warten. Sie kommt ihrer Aufgabe, das Land zu überwachen und zu schützen oder die Umwelt zu verteidigen, einfach nicht nach.

Regierungen denken oft, wir allein würden von unserem Land profitieren. Das ist nicht wahr. Tatsächlich sind die Wälder die Lunge der Erde – nicht nur Brasiliens. Diese Lunge wird befleckt, sie ist bereits verwundet. Wir möchten nicht, dass diese Krankheit weiter voranschreitet. Wir sehen es wie ein Krebsgeschwür, das unseren Wald zerstört. Wir sind besorgt, dass diese Invasion zunehmen wird, dass Rinderfarmen und Sojaplantagen kommen werden. Das möchten wir nicht.

Die Regierung redet nur von der Agrarwirtschaft: Agrarwirtschaft hier, Agrarwirtschaft da, Agrarwirtschaft ist Entwicklung – Agrarwirtschaft bedeutet ihnen alles. Aber uns bedeutet sie nichts. Unsere „Agrarwirtschaft" ist das Jagen und der Wald. Ich sage immer, „unser Reichtum liegt hier in unserem Territorium“. Unsere saubere Luft, unser Regen. Ohne das sind wir arm. Ärmer als jede*r andere.

Für die Regierung bedeutet Reichtum Soja, Zuckerrohr und Rinder. Das ist es, was weiße Menschen denken. Wir denken das nicht. Bei uns kann Geld das Leben eines anderen nicht aufwiegen. Es kann das Leben eines Verwandten oder eines Kindes nicht aufwiegen. Es kann das Leben eines Tieres nicht aufwiegen. Kein Geld dieser Welt könnte dafür ausreichen. 

Unser Land ist von Siedlungen der Karaiw umgeben. Es gibt dort Bürgermeister*innen, Polizist*innen, Gemeindevorsteher*innen und Stadträt*innen. Aber selbst mit all diesen Politiker*innen um uns herum, denke ich nicht, dass sie realisieren, dass wir existieren. Dass wir Menschen sind und dass wir leben.

Deshalb ist die Arbeit der Wächter des Waldes so wichtig. Wir überwachen das Gebiet und patrouillieren ständig durch den Wald und sprechen mit den Invasor*innen, damit sie aufhören in unser Land einzufallen. Aber sie respektieren uns nicht. Das ist unser Land. Dieses Land hat Eigentümer.

Wenn eine indigene Person Holzfäller, Jäger oder Eindringlinge, die dabei sind, Pflanzen auf unserem Land anzubauen, vertreibt, gehen sie fort und zeigen das in der Stadt an. Das Gericht kommt ihrer Aufforderung dann nach und wirft die indigene Person ins Gefängnis.

Wir verteidigen, was uns gehört innerhalb unseres Gebiets und wir werden deshalb als Banditen, als Kriminelle angesehen. Wir verteidigen unser Leben, unsere Kinder, weil wir es leid sind, auf Gerechtigkeit zu warten. Unsere Verwandten sterben. Fremde töten unsere Verwandten. Sie vertreiben sie. Sie haben schon einige unserer Wächter getötet. Sie töten uns leise, im Geheimen. Für uns ist das ein kalter Krieg.

Deshalb erbitten wir von allen Hilfe, die brasilianische Regierung unter Druck zu setzen, damit sie ihre Aufgabe erfüllt, unser Land zu überwachen und zu schützen. Unser Land ist bereits kartiert und gesetzlich ausgewiesen, aber trotzdem respektieren die weißen Menschen die Grenzen nicht.

Ich bin sehr traurig darüber, aber gleichzeitig bin ich von einer Energie erfüllt, die mich nicht traurig sein lässt. Ich kann nicht zeigen, dass mir das Herz wehtut und dass ich innerlich weine.

Trotz der ganzen Probleme, der Traurigkeit und der Krankheiten, die die Karaiw unserem Volk bringen, werden wir bis zum letzten Wächter Widerstand leisten. Solange es auch nur einen Wächter des Waldes gibt, werden wir nicht aufgeben.

Wir werden auch ohne die Unterstützung der Regierung weiterkämpfen. Wir werden bis zum Ende kämpfen. Solange es ein einziges kleines Kind gibt, das wir verteidigen können, werden wir hier sein.

1 Um die Authentizität des Interviews zu erhalten, hat sich Survival International entschieden, Begriffe, die im Original explizit nicht gegendert wurden, auch im Deutschen allein im Maskulinum wiederzugeben.

2 Survival International ist sich bewusst, dass es sich bei dem Wort ‚Indio’ um eine rassistische und obendrein unzutreffende Bezeichnung für indigene Menschen handelt. Um die Aussagen des Interviewten nicht zu verfälschen und den von ihm bewusst aufgezeigten Rassismus nicht zu verschleiern, wurde die Bezeichnung auch für die deutsche Übersetzung übernommen. 

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