Vor Weltnaturschutzgipfel: UN-Sonderberichterstatter kritisiert gängiges Naturschutzmodell

30 August 2021

Die Naturschutzindustrie hat eine dunkle Seite – sie ist in Rassismus und Kolonialismus verwurzelt und zerstört Natur und Menschen. © Survival

Diese Seite wurde 2021 erstellt und enthält möglicherweise Formulierungen, die wir heute nicht mehr verwenden würden.

Während sich Umweltschützer*innen und führende Politiker*innen aus aller Welt auf das Treffen des Weltnaturschutzbundes (IUCN) vom 3. bis 11. September in Marseille (Frankreich) vorbereiten, hat der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Umwelt ein scharf formuliertes Positionspapier veröffentlicht. Darin argumentiert er, dass das Erreichen von Umwelt-Zielen „eine dramatische Abkehr vom ‚Naturschutz wie üblich‘ erfordert“. Stattdessen fordert er in seinem Bericht einen grundlegend anderen, menschenrechtebasierten Ansatz.

Im Kontrast zu den Teilnehmer*innen des IUCN-Kongress, die ein Festhalten und eine Ausweitung des derzeitig vorherrschenden Naturschutzmodells diskutieren werden – insbesondere den Plan, 30% des Planeten zu „Schutzgebieten“ umzuwandeln – kritisiert das Positionspaper von UN-Experte David Boyd das „Versagen“ des derzeitigen Modells. Er fordert stattdessen einen „transformativen Ansatz“, der die Menschenrechte und die indigenen Völker in den Mittelpunkt des Naturschutzes stellt. Genau das müsse sich auch in dem kontroversen Post-2020 Global Biodiversity Framework wiederfinden.

Seine Forderung wird auch von den Teilnehmenden des Alternativkongresses bekräftigt, der am 2. und 3. September in Marseille stattfindet. „Our Land, Our Nature“ wird mehr als 30 indigene und nicht-indigene Aktivist*innen, Expert*innen und Wissenschaftler*innen aus rund 18 Ländern zusammenbringen und eine Gegenerzählung zum „offiziellen“ Kongress der IUCN bieten. Zu diesem einzigartigen globalen Kongress zur Dekolonialisierung des Naturschutzes haben sich bereits mehr als 2.000 Personen angemeldet.

Der UN-Bericht fordert ein Umdenken im Bezug auf das was, wer und wie im Naturschutz und fügt an, dass „die Umsetzung von auf menschenrechtebasierten Naturschutzansätzen sowohl eine Verpflichtung nach internationalem Recht als auch die gerechteste, effektivste und effizienteste Strategie ist, um die biologische Vielfalt in dem Umfang zu schützen, der für die Beeindigung der aktuellen globalen Krise erforderlich ist“.

Fiore Longo, Leiterin von Survivals Naturschutz-Kampagne, sagte heute: „Indigene Völker und Survival weisen seit Jahrzehnten darauf hin, dass der von großen Naturschutzorganisationen wie dem WWF und der Wildlife Conservation Society (WCS) vertretene Festungs-Naturschutz sowohl für die Natur als auch für indigene Völker katastrophal ist. Das Positionspapier des UN-Experten für Menschenrechte und Umwelt bestätigt dies, laut und deutlich. Es ist höchste Zeit für diese großen Organisationen und Regierungen, ihr gescheitertes, rassistisches und koloniales Modell aufzugeben und die Menschenrechte sowie die indigenen Völker in den Mittelpunkt des Naturschutzes und des Kampfes gegen den Klimawandel zu stellen.“

Diese Khadia-Männer wurden von ihrem Land vertrieben, nachdem es in ein Tigerreservat verwandelt wurde. Sie lebten monatelang unter Plastikplanen. Millionen weiteren Menschen droht dieses Schicksal, wenn der 30%-Plan umgesetzt wird. © Survival

Hinweise an die Redaktion:

Der Kongress „Our Land, Our Nature“ findet am 2. und 3. September 2021 in der französischen Stadt Marseille im Kulturzentrum Coco Velten statt.

Hier können Sie sich für die Online-Teilnahme anmelden: de.ourlandournature.org/online-event

Im Anschluss an den Kongress findet eine Pressekonferenz statt, die per Livestream verfolgt werden kann. Anmeldung hier: de.ourlandournature.org/press

Ein Protest zur Dekolonisierung des Naturschutzes und für Klimagerechtigkeit wird nahe dem IUCN-Kongress in Marseille und online am 3. September ab 16 Uhr stattfinden. Weitere Informationen zum Protest: “de.ourlandournature.org/protest”: https://de.ourlandournature.org/protest

Zu den Redner:innen gehören:

- Dr. Mordecai Ogada, kenianischer Naturschützer und Autor des Buches „The Big Conservation Lie“, der das Täuschungsmanöver mit den sogenannten „gemeindebasierten Schutzgebieten“ erklärt.
- Pranab Doley und Birendra Mahato, indigene Aktivisten aus dem Kaziranga-Nationalpark (Indien) und dem Chitwan-Nationalpark (Nepal), die die Gräueltaten im Namen des Naturschutzes in ihren Gebieten aufdecken.
- John Vidal, ehemals leitender Umweltredakteur des Guardian, Großbritannien.
- Lottie Cunningham Wren, indigene Menschenrechtsaktivistin aus Nicaragua und Gewinnerin des alternativen Nobelpreises im Jahr 2020.
- Victoria Tauli-Corpuz, ehemalige Sonderberichterstatterin der UN für die Rechte indigener Völker.
- Blaise Mudodosi Muhigwa, Rechtsanwalt und Umweltjurist, Demokratische Republik Kongo.
- Dina Gilio-Whitaker , Dozentin für American Indian Studies an der California State University San Marcos (CSUSM) und unabhängige Pädagogin für indigene Umweltpolitik, USA.
- Archana Soreng, Mitglied der Youth Advisory Group on Climate Change des Generalsekretärs der UN, Indien.

Weitere Highlights aus dem UN-Report

Boyd fordert, dass „die Nationalstaaten den Entwurf des Post-2020 Global Biodiversity Frameworks“ verbessern müssen, indem sie garantieren, dass menschenrechtebasierte Ansätze bei allen Maßnahmen zum Erhalt, zur Wiederherstellung und zur gemeinsamen Nutzung der biologischen Vielfalt, einschließlich der Finanzierung des Naturschutzes, verpflichtend sind".

Er kritisiert, von ihm als „geringfügige Verbesserungen“ titulierte, Änderungen im Entwurf und weist darauf hin, dass „Menschenrechte weiterhin nicht genannt werden, menschenrechtliche Sorgfaltspflichten bei der Planung und Finanzierung von Naturschutzmaßnahmen fehlen, die Anerkennung der Rechte indigener Völker und anderer Landeigentümer an ihrer Natur nicht enhalten sind und keine messbaren Ziele zu finden sind, um die Einbeziehung rechtebasierter Ansätze zu verfolgen.“

Er macht darüber hinaus deutlich, dass die vorschnelle Erweiterung der Gesamtfläche der „Schutzgebiete“ auf 30% der globalen Fläche nicht auf Kosten weiterer Menschenrechtsverletzungen gegenüber indigenen Völkern und lokalen Gemeinden erfolgen darf.

„Diese Menschen und Gruppen müssen als wichtige Partner beim Schutz und dem Erhalt der Natur anerkannt werden“, so Boyd. „Ihre Menschen-, Land- und Besitzrechte, ihr Wissen und ihre Naturschutzbemühungen müssen anerkannt, respektiert und unterstützt werden.“

Boyd warnt vor dem „Festungs-Naturschutz“, der darauf abzielt, eine menschenleere und vermeintlich „unberührte Wildnis“ wiederherzustellen. Dieser Ansatz beruht auf falschen Grundannahmen und habe verheerende Auswirkungen auf die in den betroffenen Gebieten lebenden Gemeinschaften – indigene Völker und die Landbevölkerung.

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